von ralph heymann
Wahrscheinlich habt ihr von dem Unternehmen Buurtzorg (auf Deutsch 'Nachbarschaftshilfe') bisher noch nie gehört. So ging es mir auf jeden Fall. Das Unternehmen Buurtzorg steht beispielhaft dafür, wie eine hierarchisch geführte und auf Effizienz getrimmte Organisation nach traditionellem Muster abgelöst wurde durch eine sich selbst führende Organisation mit mittlerweile über 7.000 Pflegekräften. Buurtzorg wurde 2006 von Jos de Blok gegründet aus der inneren Überzeugung heraus, dass das bisherige Pflegesystem in Holland an allen Ecken und Enden krankt und es doch eine bessere Lösung geben muss. Er hatte die Vision, dass wenn die Pflege wieder den Menschen (Patienten und Pfleger) in den Mittelpunkt allen Tuns stellt, die Zahl der benötigten Pflegestunden deutlich reduziert werden kann.
Die Pflegekräfte waren unzufrieden, weil
- ihnen der Tagesablauf minutiös vorgegeben wurde von Einsatzleitern, die die Patienten und ihre Geschichte nicht kannten.
- ihnen Soll-Zeiten für alle Pflege-Dienste vorgegeben wurden, die nicht mehr den Patienten in den Mittelpunkt stellten, sondern die 'Effizienz' der Dienstleistung.
- sie ständig andere Patienten betreuen mussten, was sie daran hinderte, eine Beziehung zu den Patienten aufzubauen, um die Notwendigkeit einer ambulanten Pflege nachhaltig zu reduzieren.
- sie nicht mehr für ihre eigentliche Berufung arbeiteten, anderen Menschen zu helfen, sondern nur noch für das System.
Die Patienten waren unzufrieden, weil
- sie jeden Tag einen anderen Pfleger zu Gesicht bekamen, der die Vorgeschichte der Pflege und sie selber nicht kannte und sich auch nicht für sie interessierte (oder keine Zeit dazu hatte).
- die Pfleger keine Zeit mehr hatten, um sich mit dem Patienten auszutauschen über Themen, die den Alltag der Patienten sonst erschweren.
- Die Pflegeunternehmen waren unzufrieden, weil
- sie kein oder zu wenig Geld verdienten und das Ende der Effizienzsteigerung erreicht war.
Was machte Jos de Blok anders? Er gab den Pflegern zunächst einmal ihre Sinnhaftigkeit zurück. Bei der Pflege ist es nämlich das Hauptziel, durch die nachhaltige Arbeit der Pflegekräfte die Notwendigkeit für die Pflege zu verringern oder im besten Fall ganz abzuschaffen, und damit den Patienten wieder zu einem selbständigen Leben zu verhelfen. Und er baute eine Organisation auf, die aus sehr vielen Teams von zehn bis zwölf Mitarbeitern bestehen. Wenn neue Pfleger bei Buurtzorg arbeiten wollen und alle Teams 'voll' sind, dann wird ein neues Team aufgemacht. Diese Teams sind zuständig und alleine verantwortlich für die Betreuung von ungefähr 50 festen Patienten. In und über den Teams gibt es keine Führungskräfte oder Hirarchien. Die Teams organisieren sich selbst. In der 'Zentrale' von Buurtzorg arbeiten 28 (!) Mitarbeiter, die 7.000 Pfleger unterstützen. 2009 kam eine Studie von Ernst&Young zu dem Ergebnis, dass bei Buurtzorg im Durchschnitt 40 Prozent weniger Arbeitsstunden pro Patient für die Pflege notwendig sind als bei anderen Krankenpflegeunternehmen. Und das obwohl, oder gerade weil sich Pflegekräfte bei Buurtzorg Zeit für eine Kaffee und Gespräche mit den Patienten, Familien und Nachbarn nehmen, während andere Organisationen ihre "Produkte" minutiös planen und abrechnen.
Damit solch eine Selbstorganisation funktioniert und nicht im Chaos endet, sind natürlich zahlreiche Regeln, Prozesse, Absprachen, Kommunikationskanäle und vieles mehr notwendig. Wie das bei Buurtzorg im Detail funktioniert und in 11 weiteren Unternehmen, könnt Ihr in dem Buch 'Reinventing Organizations' von Frederic Laloux nachlesen. Für alle, die sich für Selbstorganisation von Unternehmen oder auch Agilität begeistern, ist dieses Buch sicher eine Pflichtlektüre.
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